Bundesweite ArbeitsGemeinschaft
Autonomer Frauenhäuser zum Aktions Plan
Erfordernisse im Rahmen der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe (hier: SGB II und SGB XII) aus Sicht gewaltbetroffener Frauen, Stand: 04.2004
Voraussetzungen:
- Nach neuesten Schätzungen erleben etwa 22% aller Frauen Gewalt in einem Ausmaß, das Folgen für ihre Gesundheit hat.
- Die Lebensbedingungen und Reaktionen von Frauen in einer Misshandlungsbeziehung lassen sich mit denjenigen von Folteropfern und in gewisser Hinsicht auch von Entführungsopfern (Stockholmsyndrom) vergleichen.
- Die Trennungszeit, das heißt, die Zeit, die der Trennung der Frau von der misshandelnden Person (Partner, Vater, Bruder, Partnerin etc.) folgt, ist die lebensgefährlichste Zeit für Frauen. Entgegen allgemeiner Annahmen wird durch die Trennung die Gewalt eben nicht beendet, sondern in vielen Fällen führt die Trennung zur Eskalation. Nachstellungen, Psychoterror, Drohungen, massive Gewaltanwendungen bis hin zu Mord sind in verschiedenen Studien als häufige Folge von Trennungen beschrieben.
- Ökonomische Gewalt, das heißt etwa: der Entzug von Geldmitteln, die extreme Kontrolle aller finanzieller Ausgaben, gezielte Verschuldung (z.B. durch Abschluss von Kreditverträgen), die Hinderung an Erwerbstätigkeit, ist eine verbreitete Gewaltform, die Männer gegenüber ihren Partnerinnen anwenden, um eine Trennung zu verhindern und existentielle Kontrolle über die Frau zu erhalten.
Die Folgen der Gewalt sind für misshandelte Frauen vielfältig. Für die Zeit der Trennung heiß das:
- erhöhte Gefährdung für Leib, Leben und Gesundheit
- Verlust vieler sozialer Kontakte und somit häufig der Verlust eines mehr oder weniger funktionierenden Unterstützungssystems
- sozialer Abstieg bis hin zur Armut
- gesundheitliche Folgen (Verletzungsfolgen, psychosomatische Erkrankungen etc.)
- psychosoziale Folgen (z.B. akute Krise, soziale Isolation, möglicherweise Depression oder Angstzustände u.v.m)
Misshandlung bleibt nie folgenlos!
Welche Erfordernisse ergeben sich hieraus für die Umsetzung von SGB II und SGB XII im Problembereich Gewalt gegen Frauen?
- Schutz und Sicherheit von gewaltbetroffenen Frauen müssen bei allen Maßnahmen der Hilfegewährung höchste Priorität haben. Die Flucht ins Frauenhaus oder der Ortswechsel, den die Frau vornimmt, um dem Zugriff des Misshandlers (der misshandelnden Person) zu entfliehen, darf nicht durch verwaltungsrechtliche Regelungen konterkariert werden.
Konkret bedeutet dies: die Zuständigkeit der kommunalen Träger und der Agentur für Arbeit muss sich am tatsächlichen Aufenthalt der Frau orientieren. Ihr ist nach einem Ortswechsel (um weiteren Misshandlungen zu entfliehen) regelmäßig nicht zuzumuten, zur Antragstellung und im Rahmen ihrer Pflichten nach SGB II und SGB XII den Ort des bis dahin gewöhnlichen Aufenthaltes aufzusuchen.
- Ökonomische Selbständigkeit und Eigenverantwortung sind wesentliche Ziele von gewaltbetroffenen Frauen
Konkret bedeutet dies: Ökonomische Selbständigkeit ist eine der wesentlichen Voraussetzungen zum Schutz vor weiterer Gewalt.
Gewaltbetroffene Frauen benötigen hierbei Unterstützung zur (Wieder-) eingliederung in eine vollwertige Erwerbstätigkeit, d.h. Zugang zu entsprechenden Wiedereingliederungs-, Bildungs und Ausbildungsangeboten.
Sie sind insofern in der Regel dem Berechtigtenkreis des SGB II zuzuordnen.
- Jährlich sind Zehntausende Frauen innerhalb Deutschlands auf der Flucht vor gewälttätigen Ehemännern, Partnern, Familienangehörigen (auch vor Zuhältern und Frauenhändlern). In dieser Situation bestand oft keine Möglichkeit, Einkommensnachweise und sonstige Unterlagen mitzunehmen. Hilfegewährung muss hier gleichwohl unmittelbar und ohne Verzögerung eintreten, um die Gesundheit und das Leben der gewaltbetroffenen Frauen nicht zusätzlich durch schiere ökonomische Not zu gefährden.
Konkret bedeutet dies: die Hilfe zum Lebensunterhalt nach SGB II muss unverzüglich gewährt werden, wie dies bisher in der Sozialhilfegewährung Praxis ist. Fehlende Einkommensnachweise etc. dürfen die Unmittelbarkeit der Hilfe nicht beeinträchtigen.
- Die gesundheitlichen und psychosozialen Folgen von Gewalt, die Folgen einer akuten Krisensituation und die Bedingungen von Flucht und Verfolgung stehen den hohen Anforderungen und Mitwirkungspflichten des SGB II entgegen.
Konkret bedeutet dies: Wiewohl gewaltbetroffene Frauen im Regelfall zum Berechtigtenkreis des SGB II gehören, sind sie für im Kontext der Krisensituation regelmäßig nicht in der Lage, die unmittelbar geforderten Mitwirkungspflichten zu erfüllen. Hier ist es unabdingbar, gewaltbetroffenen Frauen eine Orientierungsphase einzuräumen, die z.B. durch formlosen Antrag aktiviert werden kann. Angesichts der Schwere der Folgen von Misshandlung, erscheint zunächst eine Phase von 6 Monaten angemessen. Diese ist zu verlängern, wenn die psychosoziale Situation der Frau dies erfordert. (Eine Verkürzung im Sinne einer vorzeitigen Inanspruchnahme unterstützender Maßnahmen der Agentur für Arbeit liegt dann selbstverständlich im Ermessen der Frau)
- Die Zufluchtnahme in einem Frauenhaus muss uneingeschränkt möglich sein. Ein Frauenhaus bietet für über 40.000 Frauen jährlich die einzige Möglichkeit, sich weiteren Misshandlungen zu entziehen. In vielen Fällen ist aus Sicherheitsgründen hiermit auch ein Ortswechsel verbunden, z.T. auch über die Grenzen des Bundeslandes hinaus.
Konkret bedeutet dies: der Flucht ins Frauenhaus dürfen durch die Regelungen des SGB II und unter Umständen des SGB XII keine Einschränkungen auferlegt werden. Hier sind sowohl die Hilfen zum Lebensunterhalt durch die Agentur für Arbeit des tatsächlichen Aufenthaltsortes, als auch die Kosten zur Unterkunft in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen durch die Kommune, in deren Zuständigkeitsbereich sich das Frauenhaus befindet, zu übernehmen.
Dies gilt uneingeschränkt auch für Migrantinnen, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus.
- Mädchen und Frauen zwischen 15 und 25, die vor Misshandlungen fliehen, hatten in vielen Fällen in ihrer bisherigen Biographie wenig Möglichkeiten, berufliche Ziele zu verwirklichen. Ihnen fehlte häufig die zur persönlichen und beruflichen Weiterentwicklung existentielle Grundbedingung eines gewaltfreien Lebens. Nach der Flucht aus der gewaltgeprägten Umgebung hat die Entwicklung einer Lebensperspektive ohne Gewalt höchste Priorität.
Konkret bedeutet dies: Die schon im Normalfall völlig unangemessenen Sanktionsmöglichkeiten des SGB II bei schon geringen Verletzungen der Mitwirkungspflicht, sind für junge Frauen mit körperlichen und/oder sexualisierten Gewalterfahrungen auszusetzen. Die Entwicklung einer gewaltfreien Lebensperspektive hat hier absoluten Vorrang vor der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit – von einer unverzüglichen Vermittlung in eine Arbeit, Ausbildung oder Arbeitsgelegenheit (§3 SGB II) ist insofern abzusehen. Auch hier ist mindestens eine Orientierungsphase von 6 Monaten einzuräumen, sofern dies dem Willen der Empfangsberechtigten entspricht.
- Kinder aus Gewaltbeziehungen haben erhebliche Misshandlungen miterlebt und oft auch selbst Gewalt erfahren. Auch Mädchen und Jungen leiden unter gesundheitlichen und psychosozialen Gewaltfolgen. Auch für sie sind mit der Trennung ihre Probleme noch nicht gelöst. Vielmehr brauchen sie häufig besondere Zuwendung und Unterstützung, um das Erlebte zu bearbeiten.
Konkret bedeutet dies: Mütter dürfen in dieser Zeit nicht zwischen kindlichen Bedürfnissen und Behördenanforderungen zerrissen werden z.B. durch den Zwang zur Arbeitsaufnahme und zur Unterbringung des Kindes. Eine Betreuung des Kindes in Kindertageseinrichtungen gegen den Willen des Kindes und/oder der Mutter ist unbedingt zu vermeiden.
Darüber hinaus sind aus Sicht gewaltbetroffener Frauen folgende Regelungen uneingeschränkt abzulehnen.
§ 38 und § 15 SGB II: die Vertretungsregelung verstärkt die Kontrollmöglichkeiten des misshandelnden Partners und die ökonomische Abhängigkeit des Opfers. Sie ist als massives Mittel struktureller Gewalt anzusehen.
Die verstärkte Anrechnung des Partnereinkommens erschwert angesichts der realen Einkommensverhältnisse von Frauen und Männern in Deutschland die ökonomische Unabhängigkeit von Frauen, was in jedem Fall, aber noch dramatischer in Misshandlungsbeziehungen, zu einer stärkeren Abhängigkeit vom Mann als „Ernährer“ führt. Hierdurch wird die Machtposition des (misshandelnden) Partners erheblich gestärkt.
ZIF
Postfach 101103
34011 Kassel
E-mail: info@zif-frauen.de
Bei Nachfragen können Sie sich an folgende Adresse wenden:
Marion Steffens, Frauen helfen Frauen EN e.V., Postfach 14 05, 58404 Witten
Email : frauenberatung.witten@t-online.de
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